Im Theaterstück „Wartezimmer“ berichten junge Geflüchtete über ihren Weg – Im Heinrich-von-Zügel-Gymnasium zu Gast
Von Ute Gruber Erstellt: 8. Oktober 2019, 06:00 Uhr
Was würdest du im Rucksack mitnehmen, wenn du dein Land von einem auf den anderen Moment verlassen müsstest? Was tun, wenn im ersten Ankunftsland der Besuch einer weiterführenden Schule nicht möglich ist? Beim interaktiven Theaterstück „Wartezimmer“ des Projekts „angekommen – angenommen“ hatten Schüler des Heinrich-von-Zügel-Gymnasiums Murrhardt die Möglichkeit, in die Erlebniswelt von jungen Geflüchteten einzutauchen.
MURRHARDT. Beim Eintritt in den Warteraum muss man – wie bei jeder größeren Behörde, so auch bei der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bampf – erst mal eine Nummer ziehen. Dann sitzt man im Kreis auf harten Stühlen, das Zettelchen in der Hand, und wartet. Verlegene Stille. „Nummer 68“, ruft die Beamtin hinter dem Schreibtisch. „Sami F.? Ihr Sprach- und Integrationsprojekt wurde genehmigt“, verkündet sie freundlich dem dunkelhaarigen jungen Mann, der die Nummer vorlegt.
Der brütet dann – wieder an seinem Platz – über dem Formular, das er ausfüllen soll. „Was meinen die mit Eintrittsdatum?“, murmelt der 19-Jährige vor sich hin. Er kämpft mit dem unverständlichen Behördendeutsch. Eine dunkelgelockte, junge Frau gegenüber erkundigt sich interessiert: „Machst du Deutschkurse?“ Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich herausstellt, dass beide mit ihrer Familie aus Syrien geflohen sind, aber auf ganz unterschiedlichen Wegen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland kamen. Sami wollte nicht in Marokko bleiben, weil er als Ausländer dort nicht in die weiterführende Schule gehen durfte. Beim zwölften Versuch, über die Grenze nach Spanien zu kommen, wurde er für drei Wochen ins Gefängnis geworfen: „Ich war da erst 15!“ Seine Flucht endete in Deutschland: „Das erste Bett in Deutschland, das war das Beste. Ich hab 20 Stunden nur geschlafen!“
Auch Batoul war 15 Jahre alt, als sie sich mit ihrer Familie aus dem vermeintlichen Türkeiurlaub auf die Flucht machte: „Ich hatte nur Kleider eingepackt!“ Drei Wochen dauerte die Odyssee über Griechenland, den Balkan, Österreich nach Deutschland. Sie zeigt den Weg auf einer Landkarte an der Wand. „Am schlimmsten war das Schlauchboot“, sagt sie leise. Die gefährliche Überfahrt zur griechischen Insel Lesbos auf der völlig überfüllten Nussschale mitten im Meer hinterlässt Spuren. Auch bei denen, die sie lebendig überstehen.
„Nummer 69“, unterbricht die Beamtin das Gespräch, gerade als die inzwischen 18-jährige Batoul in ihrem akzentfreien Deutsch erzählt, dass sie nächstes Jahr Abitur machen will. Aufgeschreckt erhebt sich einer der Schüler, die seither gebannt der Unterhaltung gefolgt sind. Er soll die Frage vorlesen, die unter seinem Stuhl klebt: „Willst du studieren?“ Plötzlich werden die Zuschauer selbst zu Akteuren, flechten sich nach Aufruf mit passenden, vorgefertigten Fragen ins Gespräch ein. „Wie wohnst du?“, will Nummer 70 von den Geflüchteten wissen, die kaum älter sind als er selbst. „Darfst du dir deinen Wohnort aussuchen?“, fragt Nummer 71, „Möchtest du gern wieder zurück nach Syrien?“, Nummer 72.
Sami und Batoul stehen Rede und Antwort: Beide sind sehr ehrgeizig und machen Abitur, Batoul will Chemie studieren, am liebsten in Heidelberg. Die introvertierte junge Frau, die durch die Flucht plötzlich viel Verantwortung für die Familie übernehmen musste, würde auch gerne nach Syrien zurückgehen, „aber nur, wenn es dort wieder Freiheit gibt“. Dann erzählt sie, dass man dort nicht nur wählen darf, sondern muss. „Aber dann genau das, was die Aufseher im Wahllokal dir sagen!“, beschreibt sie die demokratische Farce in ihrer Heimat. Sami sieht mehr Möglichkeiten in Deutschland. Er fühlt sich hier auch gut angenommen, „aber noch nicht wirklich angekommen“. Ausländerfeindlichkeit erlebt er selten.
Pünktlichkeit und Meinungsfreiheit treffen auf eine Welt, in der Alte weniger respektiert zu sein scheinen
Beide schätzen an den Deutschen die Pünktlichkeit, die Meinungsfreiheit und das geregelte Leben sehr. Und dass sie die Möglichkeit haben, hier einen qualifizierten Beruf zu lernen. Im Gegenzug könnten die Deutschen von den Syrern lernen, „wie man gut mit alten Leuten umgeht“. Sie sind fassungslos darüber, dass alte Menschen ins Heim abgeschoben würden, „das wäre bei uns eine Schande. Der jüngste Sohn bleibt immer zu Hause wohnen“, meint Sami. Dann erzählt er, wie er unlängst einer alten Dame an der Straßenbahn mit ihren schweren Tragetaschen helfen wollte. „Die dachte echt, ich will sie beklauen“, entsetzt er sich, „die sind das hier gar nicht gewohnt, dass sie wertgeschätzt werden!“
Zuletzt stellen die beiden noch eine Frage an das Publikum: „Was würdet ihr mitnehmen, wenn ihr nur einen Rucksack für die Flucht hättet?“
Die Neuntklässler, die heute das Publikum für das neue Modul „Wartezimmer“ des Kubus-Projekts „angekommen – angenommen“ sind, wirken fast paralysiert, als ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst zu äußern. „Das ist ein ganz anderer Einblick als nur Nachrichten“, stellt einer berührt fest. Vielleicht wird manchem erst jetzt bewusst, welche Dramen sich an den türkischen Badestränden abspielen, die sie vom unbeschwerten Urlaub her kennen.
„Gestern, die Achtklässler, haben Mohadese und Sami Löcher in den Bauch gefragt“, stellt Gemeinschaftskundelehrerin Gabi Gabel verwundert fest, die die Veranstaltung vonseiten des Heinrich-von-Zügel-Gymnasiums organisiert hat. Ihr war es wichtig, das Thema Flüchtlinge „auch mal auf emotionaler Ebene anzugehen“. Auch Kollege Gianluca Cannella findet: „Vorurteile werden am besten durch persönliche Kontakte abgebaut.“ In jedem Fall wollen sie die Eindrücke mit der Klasse anschließend „nacharbeiten“.
Diese Eindrücke sind freilich bei jeder Aufführung anders, selbst wenn das Grundgerüst gleich bleibt, denn die Protagonisten sind immer wieder andere: Acht geflüchtete Jugendliche aus Syrien und Afghanistan hat Regisseur Wilhelm Schneck in Zweiergruppen in das interaktive Theaterstück eingewiesen. Jeder mit seiner Geschichte, seiner Wahrnehmung. „Da ist großes Interesse da“, stellt der Begründer von „Lokstoff! Theater im öffentlichen Raum e.V.“ freudig fest, „aber das Klassenzimmerstück findet ja während der Schulzeit statt, das geht nicht bei jedem.“ Nicht jeder ist so fleißig und gut in der Schule wie Sami und Batoul, dass er locker einen Tag Unterricht versäumen kann. Das Stück sieht Schneck ohnehin nur als Impuls, immerhin gibt es ja schon mal eine konkrete Anleitung zur Gesprächsführung. Und natürlich einen Denkanstoß, wie zum Beispiel die Rucksackfrage.