Wanderausstellung des Projekts „angekommen – angenommen“ in der Stadtbücherei Murrhardt erzählt von jungen Schicksalen
Von Ute Gruber Erstellt: 21. November 2019, 06:00 Uhr
Verfolgung, Angst, Flucht – Neuanfang in einem Land, dessen Sprache man nicht spricht und in dem man auf der Schwelle zum Erwachsenwerden steht: In einer Wanderausstellung in Murrhardt erzählen junge Flüchtlinge über sich und ihre Geschichte. Sie ist Teil des Projekts „angekommen – angenommen“ und noch bis zum 29. November in der Stadtbücherei zu erleben.
Wer zurzeit in der Murrhardter Stadtbücherei vorbeischaut, steht erst mal vor einer Wand. Vor einer improvisierten Wand, gemauert aus leeren Pappschachteln. Diese wiederum sind beschriftet mit allerlei Texten – Zitate, Definitionen, Paragrafen. Insofern fügt sich das fragile Bauwerk recht organisch in die Umgebung aus Bücherregalen, Lesetischen und ausgelegten Bilderbüchern ein. Bilder gibt es auch an den Wänden: Auf vier Tafeln im Foyer hängen die vergrößerten Portraits von acht Jugendlichen aus der Region, vier deutschen und vier ausländischen. Paarweise sind ihre Statements zu den Themen Reisen, 18. Geburtstag, Schulabschluss und öffentliche Wahrnehmung gegenübergestellt. Schon an diesen prägnanten Gegenüberstellungen wird deutlich, worum es hier geht: die Flüchtlingsproblematik bekommt ein Gesicht.
Gleichzeitig bilden die Schachtelwände aus Definitionen und Paragrafen einen rechteckigen Raum, dessen Inneres ein intimes Kleinkino beherbergt, in dem in Endlosschleife kurze Interviews mit geflüchteten Jugendlichen aus dem Vorderen Orient und Eritrea zu sehen sind. Sie erzählen von ihrer Familie, der Verfolgung und Flucht, ihrem Einleben in Deutschland, ihren Träumen. Viele haben ihre Angehörigen verloren oder sind allein gekommen, etwa weil das Geld nicht reichte.
Der 19-jährige Salah musste seine Zeugnisse und sein Handy im zerstörten Haus im Irak zurücklassen. Als Jesiden wurde die Familie vom IS vertrieben, die Schwester wurde vergewaltigt, Bruder und auch Großvater wurden erschossen, weil sie dem Glauben nicht abschwören wollten. „Ich glaube momentan an nichts mehr“, ist seine ernüchterte Konsequenz aus den Erlebnissen. Salah vermisst seine Familie sehr. In die deutsche Schule geht er gern, weil dort viel Brauchbares gelehrt werde wie Mathe, Englisch und Physik, „nicht nur ewig Geschichte, wie im Irak“. Er macht derzeit noch mal seinen Schulabschluss. Sein Traumberuf wäre Schauspieler, verkündet der Lockenkopf strahlend. Die 23-jährige Hiba aus Syrien tritt als überzeugte Muslima in ordentlichem Kopftuch auf. Mit ihrer Mutter und vielen Geschwistern lebt sie in Stuttgart, wo es ihr gut gefällt, „weil alles so grün ist“. Ihre „Leidenschaft ist, anderen zu helfen“, was sie durch ihre Sprachkenntnisse unterwegs schon praktizieren konnte. Deshalb will sie ihr durch die Flucht unterbrochenes Studium der Sozialen Arbeit in Deutschland wieder aufnehmen. Als sie sagt: „Jetzt kenne ich Deutschland schon besser, ich weiß, ich muss hier pünktlich sein!“, kichert es aus dem bunt gemischten Publikum, das sich zur Ausstellungseröffnung eingefunden hat. Verlegen hält sich das Konterfei der jungen Frau auf der Leinwand – die echte Hiba – die Hand vor den Mund: „Das ist so seltsam, sich selbst zuzuschauen.“ Viele der Protagonisten sind anwesend, auch die Macher der Ausstellung natürlich.
Kathrin Hildebrand vom Theater Lokstoff etwa, die die Interviews geführt hat und die jungen Leute persönlich gut kennt. Flüsternd ergänzt sie wichtige Details zu den Protagonisten. Mahdi (22), ein mongolisch aussehender junger Mann der Hazara-Minderheit in Afghanistan, hat im benachbarten Iran auf Baustellen gearbeitet, seit er zehn war, um nicht von den terroristischen Taliban zwangsrekrutiert zu werden. Bis er im Iran für die Hisbollah-Miliz eingezogen werden sollte. „Er ist ja nie auf eine Schule gegangen, ist Analphabet“, erklärt Kathrin Hildebrandt. Jetzt macht er hoch motiviert in Deutschland eine Lehre zum Elektriker und hat natürlich Schwierigkeiten mit der Berufsschule. „Das ist ja klar. Er muss Sprache und Schreiben gleichzeitig lernen. Praktisch ist er top!“
Besonders die interviewten jungen Frauen genießen die Freiheit hier: „In die Schule zu dürfen! Kein Kopftuch! Nicht für alles um Erlaubnis fragen müssen! Einen richtigen Beruf lernen!“, schwärmen sie.
Wie bei jeder professionellen Vernissage gibt es auch ein kleines Buffet mit Häppchen: „Köstlichkeiten aus dem Irak, Iran und Syrien“, präsentiert Jochen Schneider vom Verein Kubus stolz das kulinarische Angebot und ergänzt zur allgemeinen Erheiterung: „…und kühle Getränke vom Juze.“ Der Aufbau der temporären Ausstellung habe bei dieser Premiere mit dreieinhalb Stunden doch etwas länger gebraucht als geplant, „aber das wird noch“.
Als besonderes Bonbon gibt es zusätzlich einen nagelneu erstellten Teil des Moduls „Fluchtparcours“ zu erleben: die Fluchtgeschichte von Belal aus Afghanistan in VR-Technik. Mit einem klobigen Miniaturkino auf der Nase befindet man sich mit dem jungen Mann in verschiedenen, computeranimierten Räumen und erlebt so hautnah die erzählte Geschichte mit. „Ein sehr aufwendiges Projekt“, bestätigt Initiator Wilhelm Schneck, der die Idee mit einer Fachfirma umgesetzt hat.
In der Wanderausstellung, die vor allem in Schulen gezeigt werden soll, bekommen junge Menschen von Gleichaltrigen vor Augen gehalten, wie wenig selbstverständlich die Freiheiten sind, die sich hier in Deutschland genießen lassen, wie zum Beispiel Reisefreiheit, Wertschätzung, freie Berufswahl, Freizeitkultur und politische Mitbestimmung.
An konkreten Alltagsthemen werden diese hehren Begriffe nachfühlbar. Während die deutschen Jugendlichen problemlos etwa in der ganzen Welt umherreisen, nach dem Abi mal noch ein Freiwilliges Soziales Jahr zur Selbstfindung einschieben, ab 18 jeden Club betreten und Alkohol konsumieren können, ist den geflüchteten teilweise selbst die freie Wahl des Wohnorts verwehrt, parlamentarisch wählen dürfen sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus nicht und üben Abstinenz – teils schon aus Verantwortung ihrer Familie gegenüber. „Das Einzige, was sich wirklich verändert hat“, stellt Anila aus Afghanistan zu ihrem 18. Geburtstag fest, „ist, dass ich meine Entschuldigungen jetzt selbst unterschreiben darf.“